Verwaltungsspitzen von Landkreis, Städten und Gemeinden schreiben Offenen Brief zur Flüchtlingssituation an Bundeskanzler und Ministerpräsident

 

Ministerpräsident Boris Rhein                                     Bundeskanzler Olaf Scholz

Hessische Staatskanzlei                                                Bundeskanzleramt

Georg-August-Zinn-Str. 1                                             Willy-Brandt--Str. 1

65183 Wiesbaden                                                             10557 Berlin

 

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler Scholz,

sehr geehrter Herr Ministerpräsident Rhein,


als Bürgermeisterinnen und Bürgermeister der 19 Städte und Gemeinden, als Landrat und als Erster Kreisbeigeordneter des Landkreises Limburg-Weilburg sehen wir uns als direkte Vertreter der Bürgerinnen und Bürger. Zugleich sind wir Vertreter staatlicher Institutionen auf der untersten Ebene und sind daher mit Umsetzung und Ausführung politischer Entscheidungen auf Landes-, Bundes und auch auf EU-Ebene betraut. Wir stehen dabei im unmittelbaren Kontakt mit unserer Bevölkerung. Aus dieser Position heraus ergibt sich: Bei der weiteren Unterbringung und Integration von Flüchtlingen benötigen wir mehr Unterstützung und mehr Hilfe, insbesondere von Bund und Land. Wird uns diese Hilfe nicht gewährt, sind wir nicht mehr in der Lage, adäquat Hilfe zu leisten und Integration zu ermöglichen.

Wir wenden uns an Sie, Herr Bundeskanzler und Herr Ministerpräsident, um Ihnen unsere Sorgen mitzuteilen: Immer weiter steigende Zahlen von Flüchtenden, die von uns im Landkreis mit seinen Städten und Gemeinden aufgenommen werden sollen; gleichzeitig überfordern wir die hier ansässigen Menschen, Hilfe zu leisten. Immer größer werdende Probleme der Wohnraumbeschaffung verbunden mit einer absehbaren Überlastung vorhandener Infrastruktur von Kindertagesstätten, Schulen, sozialer Betreuung, Deutschunterricht und vielem mehr.

Unstrittig sehen wir uns in der Verantwortung, Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine zur Seite zu stehen und das Land zu unterstützen. Wir stellen uns auch der Aufgabe, vielen anderen Flüchtlingen aus der ganzen Welt, die vor Krieg und politischer Verfolgung fliehen, Hilfe zu gewähren und ihnen eine Lebensperspektive zu ermöglichen. Dafür haben wir uns in der Vergangenheit hier vor Ort in den Städten und Gemeinden eingesetzt, das wollen wir auch in Zukunft tun. Doch für uns sind die Grenzen erreicht und drohen überschritten zu werden. Wir halten es für dringend geboten, dass uns Bund und Land bei der Schaffung von Wohnraum und dem Ausbau der Infrastruktur deutlich stärker unterstützen und zudem in eigener Verantwortung und Zuständigkeit Kapazitäten zur Unterbringung schaffen.

Auf den Ebenen von Bund und EU muss alles dafür getan werden, die Flüchtlinge zunächst auf europäischer und anschließend auf Bundesebene gerecht zu verteilen. Es kann nicht sein, dass sich Länder in der EU dieser Aufgabe verschließen. Auch auf Bundesebene sind die Flüchtlinge gerecht zu verteilen. Integration von Geflüchteten geschieht konkret vor Ort, Integration setzt aktive Kommunikation und aktives Handeln zwischen denen, die schon lange hier leben und Menschen, die geflohen sind und nun eine neue Heimat auf kurze oder lange Zeit suchen, voraus. Wir sind im hauptamtlichen Bereich schon heute überlastet und müssten eigentlich mehr tun, um Spracherwerb zu fördern, konkrete Hilfestellung zu gewährleisten oder auch dabei zu unterstützen, berufliche Perspektiven aufzubauen. Wie soll das werden, wenn nun noch deutlich mehr Flüchtlinge kommen und dem gegenüber die Zahl der hauptamtlich Helfenden und Unterstützenden nicht steigt?

Als Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, als Landrat und Erster Kreisbeigeordneter erleben wir täglich, wie sehr ehrenamtliches Engagement die Aufnahme der Geflüchteten ermöglicht und sich bei einer langfristigen Unterstützung zu einer tatkräftigen Integrationshilfe entwickelt. Gerade bei Menschen, die aus der Ukraine zu uns geflüchtet sind, ist diese ehrenamtliche Unterstützung ein Rückgrat der Hilfe. 1.700 Menschen aus der Ukraine sind in unserem Landkreis bis dato privat aufgenommen worden. Darüber hinaus gibt es tatkräftige Unterstützung durch Helferkreise, die sich um Behördengänge kümmern, um Ausstattungen für Zimmer und Wohnungen bemühen, die Fahrten zur Versorgung übernehmen und einfach da sind, damit Fremde sich in der neuen Umgebung zurecht zu finden.

Unser Eindruck von der Basis: Die Hilfe auf privater Ebene ist gerade zu Beginn der Flüchtlingsankunft aus der Ukraine sehr groß gewesen, mit der Dauer zeigt sich jedoch eine gewisse Ermüdung. Es sind immer wieder die Gleichen, die aktiv Hilfe leisten. Auch dieses Hilfesystem sehen wir gefährdet, wenn es durch stark steigende Zahlen von Geflüchteten überfordert wird. Und wir wollen nicht verschweigen, dass diese Art der Hilfe auch stark abhängig ist von denen, die geflüchtet sind.

Wir dürfen in diesem Zusammenhang auch nicht vergessen, dass die seit langem hier heimische und ansässige Bevölkerung sich seit Monaten in einem Krisenmodus befindet. Dieser wird subjektiv sehr unterschiedlich wahrgenommen und ist keineswegs mit der Lebenskrisensituation von Geflüchteten zu vergleichen, doch Corona-Pandemie, Energiekrise, Inflation, unsichere wirtschaftliche Entwicklungen hinterlassen Spuren.

Unsere Forderung an Sie, Herr Bundeskanzler, und an Sie, Herr Ministerpräsident: Machen Sie durch Ihren Einsatz, durch Ihr Handeln und durch Ihre politischen Entscheidungen deutlich, dass Integration auch das Engagement, den Willen und den Einsatz von denen abverlangt, die zu uns kommen und von uns Unterstützung erhoffen und erwarten. Das betrifft die, die sich dazu entscheiden, auf Dauer hier zu leben und denen von staatlicher Seite ein Bleiberecht eingeräumt wird. Dieser Prozess muss nach unserer Einschätzung deutlich beschleunigt werden. Gleichzeitig halten wir es für dringend geboten, den Menschen mit einer positiven Bleibeprognose deutlich schneller als bisher Möglichkeiten zur Integration anzubieten bzw. deren Teilhabe und Teilnahme einzufordern. Ziel staatlichen Handelns muss es unseres Erachtens sein, den Geflüchteten zügig ein Leben ohne staatliche Unterstützung und  deren wirtschaftliche Selbstständigkeit zu ermöglichen. Die Integration lässt sich durch die Teilnahme am Erwerbsleben deutlich besser fördern.

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler Scholz, sehr geehrter Herr Ministerpräsident Rhein, wir schreiben Ihnen, da wir uns um die Zukunft in unserem Land sorgen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährdet sehen, wenn die Weichen nicht durch Bund und Land an mehreren Stellen umgelegt werden. Es müssen nun endlich tragfähige und langfristige Lösungsansätze in der Flüchtlingspolitik gefunden und umgesetzt werden.